[sge-liste] WELT: "Hey, es geht nicht mehr. Gib mir Tabletten oder irgendwas"

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  • Date: Sat, 21 Aug 2021 07:39:00 +0000

„Hey, es geht nicht mehr. Gib mir Tabletten oder irgendwas“
Stand: 20.08.2021 | Lesedauer: 9 Minuten
Von Lukas Dombrowski, Roland Palmert, Ulrika Sickenberger

Martin Hinteregger ist bei Eintracht Frankfurt der Liebling der Fans. Der
Abwehrspieler ist auf dem Platz resolut, hat privat aber sehr verletzliche
Seiten. Der 28-Jährige spricht offen über seine Depression und seine
Spielsucht.
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Martin Hinteregger ist das, was man einen gestandenen Profi nennt. Der
Österreicher stand in 162 Spielen in der Bundeliga auf dem Platz. 2016
wechselte er aus Salzburg zu Borussia Mönchengladbach. Sein sportliches
Glück fand er erst bei Eintracht Frankfurt, wo der Innenverteidiger nach
einem missglückten Gastspiel in Augsburg gelandet ist.

Der Abgang aus Augsburg ist auch mit dem wohl dunkelsten Kapitel seiner
Karriere verbunden. 2019 litt der 28-Jährige mehrere Monate an Depressionen.
Hinteregger ist ein Freund der klaren Worte, auch abseits des Platzes. Er
spricht offen über seine Spielsucht und Depression.

Frage: Herr Hinteregger, Sie haben das Buch „Innensicht“ mit 45 Geschichten
aus Ihrem Leben veröffentlicht. Wären die vergangene Rückrunde, der Abgang
von Adi Hütter und die verpasste Champions League nicht auch ein Kapitel
wert gewesen?

Martin Hinteregger: Ich habe es probiert und wollte es mit meinem Co-Autor
niederschreiben, aber es ging nicht. Denn es ist schwer zu erklären, was da
passiert ist. Ich kann es selbst noch nicht erklären.

Frage: Lag es nicht daran, dass im März klar war, dass Ihr Trainer Hütter
nach Gladbach wechseln wird?

Hinteregger: Das wäre mir als Grund zu einfach, da wird auch viel
reininterpretiert. Als Spieler stehe ich selbst auf dem Platz und will das
Spiel gewinnen. Und da habe ich nicht meine Leistung gebracht. Ich habe oft
darüber nachgedacht und mit Vertrauten gesprochen. Entweder ist etwas im
Unterbewusstsein passiert, oder etwas anderes – ich verstehe es noch nicht.

Frage: Ab wann wussten Sie von Hütters Abgang?

Hinteregger: Er hat mich kurz vor der Entscheidung gefragt, wie Gladbach so
ist und wie es damals für mich war (Hinteregger war 2016 ein halbes Jahr als
Leihspieler bei der Borussia; d. Red.). Da habe ich gesagt: Für mich war es
keine gute Zeit, aber der Verein ist ganz cool. Und ich habe ihm gesagt:
Wenn man mit Max Eberl zusammenarbeiten kann, dann gibt es kaum bessere
Optionen. Denn ich habe nicht viele bessere Menschen im Fußballgeschäft
kennengelernt als Max Eberl.

Frage: Woran machen Sie das fest?

Hinteregger: Dafür, dass ich damals meine Leistung nicht gebracht habe, die
Ziele nicht erreicht habe und das Vertrauen nicht zurückgegeben habe, haben
mich Max Eberl und sein Chefscout Steffen Korell immer extrem respektvoll
behandelt, auch im Nachhinein. Dieses Gefühl, das sie mir gegeben haben,
obwohl ich enttäuscht habe, zeigt ihre Menschlichkeit. Und die gibt es im
Fußballgeschäft in der Form nicht so oft.

Frage: Ist es ungewohnt, wenn Sie Hütter jetzt im Gladbach-Outfit sehen?

Hinteregger: Sicher schaut das komisch aus, weil man es anders gewohnt war.
Ich habe Stefan Lainer, meinem besten Freund im Fußball, gesagt: Freu dich
auf Adi und die Co-Trainer! Du wirst viel Spaß mit ihnen haben.

Frage: Landen Sie denn mit Eintracht vor Gladbach?

Hinteregger: Schauen wir mal, was noch passiert. Nach dem Transferschluss am
31. August kann man etwas genauere Prognosen machen als jetzt.

Frage: Im Sommer horchten Eintracht-Fans nach Ihrem Satz „Die Serie A bleibt
mein großer Traum“ auf. Woher kommt die Zuneigung für Italien?

Hinteregger: Von meinem Zuhause in Kärnten sind es 45 Minuten nach Italien.
Als ich klein war, lief oft italienischer Fußball. Juventus war mein Verein,
Del Piero war mein Spieler. Das ist der Bezug. Wenn ich noch mal jung wär,
wäre ich früher gerne mal dorthin gewechselt. Als Verteidiger lernt man da
viel.

Frage: Und jetzt?

Hinteregger: Das Gute ist, dass man in Italien prinzipiell zwei, drei Jahre
länger spielen kann als in Deutschland oder Österreich. Und unter einem
Typen wie zum Beispiel José Mourinho würde ich auch gerne mal spielen, das
wäre geil. Aber es ist so: Dafür, dass ich in Augsburg schlecht gespielt
habe und erst hier wieder durch die Leute und die Fans der Spieler wurde,
der ich heute bin, habe ich Frankfurt etwas zurückzugeben. Und ich habe
überhaupt keine Wechsel­gedanken.

Frage: Sie spielen am Wochenende gegen Ihren Ex-Klub Augsburg, den Sie im
Streit verlassen haben. Was haben Sie gedacht, als Ihr Landsmann Kevin Danso
jetzt Zoff mit dem FCA hatte?

Hinteregger: Ich dachte mir: Verlass dich nicht allein auf mündliche
Versprechungen. Die werden oftmals nicht eingehalten, und ich könnte mir
vorstellen, dass es so ähnlich auch beim Kevin war. Ich kenne seine
Geschichte und weiß, wie er behandelt wurde. Das war anscheinend nicht
korrekt. Und dann werden meist die Spieler schlecht dargestellt. Aber es
sind nicht immer die Spieler schuld.

Frage: In Ihrem Buch erzählen Sie, dass Sie nach dem endgültigen Wechsel von
Augsburg nach Frankfurt Depressionen hatten …

Hinteregger: Damals war ich in einem Teufelskreis. Da war nach vielen
Geschichten über mich der Druck der Medien, deswegen wurden meine Eltern
angesprochen und gefragt: „Was ist mit eurem Bub los?“ Dann hatte ich meinen
Eltern gegenüber ein schlechtes Gewissen. Meine Mutter ist Kellnerin, die
hat es nicht leicht gehabt. Dann habe ich mir selbst wieder einen Fehltritt
geleistet und mich während der Länderspielpause auf meiner Geburtstagsfeier
danebenbenommen. Da hatte ich dann ein schlechtes Gewissen gegenüber Adi
Hütter. Und dann war es drei Monate komplett aus.

Frage: Was bedeutet das genau?

Hinteregger: Ich bin ins Auto gestiegen, das Radio geht an, und es stört
einen schon. Es geht einem so schlecht, man möchte gar nicht weiter. Man
schafft es zwar ins Training, aber auch das fühlt sich schlimm an. Man denkt
dann auch an den Fall von Robert Enke, das ist ja logisch – auch wenn es bei
mir nicht so weit gekommen wäre, war es schon sehr dunkel. Ich war total am
Limit und habe schon auch mal gedacht: Mist, ich kann nicht mehr, ich bin
fertig, es ist vorbei.

Frage: Was hat Sie gerettet?

Hinteregger: Ich habe mich zum Glück unserem Doktor anvertraut und ihm
gesagt: „Hey, es geht nicht mehr. Gib mir Tabletten oder irgendwas.“ Ich bin
damals nachts aufgewacht, war zwei Stunden wach, mein Kopf ist explodiert,
ich konnte nicht abschalten. Ich habe keine zwei, drei Stunden am Tag
geschlafen, monatelang. Trotzdem habe ich es geschafft, dass ich Leistung
zeige. Hier im Stadion zu spielen war zwischenzeitlich das Einzige, was mich
gerettet hat. Dann habe ich mich einer Psychologin anvertraut. Denn
grundsätzlich fresse ich alles mental in mich rein und habe Probleme, meine
Gefühle zu zeigen und darüber zu sprechen. Von den 45 Geschichten in meinem
Buch kennen meine Eltern 20 gar nicht. Und für die wird das auch mal kurz
ein Schock sein. Dass ich Depressionen hatte, wusste keiner. Die Gespräche
mit der Psychologin waren ganz wichtig, sonst wäre es wohl schlimm
ausgegangen.

Frage: Wird sich an der Situation für Fußballer etwas ändern, weil Sie auch
darauf aufmerksam machen?

Hinteregger: Ach, das wird nicht besser. Nach zwei Tagen hat jeder solche
Themen vergessen. Ich möchte nur ein paar jüngeren Spielern helfen und vor
allem Menschen außerhalb des Fußballs. Ich denke, viele sind in diesem Kreis
drin. Die sind auch fertig und denken sich jetzt hoffentlich: Ah, selbst der
Fußball-Profi sucht sich Hilfe. Für mich ist wichtig, dass Leute sehen, dass
auch wir schlechte Phasen haben, und ich Leuten helfen kann, die das lesen.

Frage: Sie waren auch mal fast spielsüchtig …

Hinteregger: Ich war 19 Jahre jung. Da fängt fast jeder mal an, darüber
nachzudenken, etwas zu zocken. Dann gibt es Mitspieler, die das machen. Bei
mir war es reine Langeweile. Ich war vier, fünf mal die Woche im Casino,
teilweise bis drei Uhr morgens. Im Nachhinein ist das schrecklich, aber ich
war noch nicht so drin wie viele Spielsüchtige, die ich gesehen habe. Aus
dem Grund bin ich 70 Kilometer weggezogen, und dann war es vom einen auf den
anderen Tag vorbei.

Frage: Würden Sie heute mit Max Kruse pokern?

Hinteregger: Nein, dafür bin ich zu schlecht. Das eine Mal, als ich gespielt
habe, habe ich 100 Euro in drei Minuten verzockt.

Frage: Mit Ihrer Ehrlichkeit sorgen Sie immer auch für Diskussionen. Wie
waren die Reaktionen, als Sie im ZDF-Interview sagten, es wäre ja okay, wenn
sich Fußballfans zum Prügeln verabreden?

Hinteregger: Ich habe viele positive und einige negative Nachrichten
bekommen. Denen habe ich es erklärt. Und sie haben es dann auch verstanden,
wie es gemeint war. Es war ja auch überhaupt gar nicht allgemein auf Gewalt
bezogen. Ich wollte in keiner Weise Gewalt verharmlosen. Eine Frau, die
geschrieben hat, ist Lehrerin, und ihr habe ich zugesagt, dass ich in die
Schule komme und mit den Schülern über das Thema Gewaltprävention rede. Das
will ich im September machen, wenn es wieder coronakonform ist.

Frage: Sie wurden von Trainer Oliver Glasner hinter Sebastian Rode als
Vizekapitän bestimmt. Fehlt Ihnen zum Kapitän noch etwas?

Hinteregger: Ich kann auf dem Platz ein Führungsspieler sein, und das werde
ich weiterhin machen. Aber ich bin nicht der Disziplinierteste.

Frage: In Ihrer Heimat Österreich sagt man auch Hallodri dazu.

Hinteregger: Genau. Seppl bringt da alles mit. Gemacht hätte ich es auch,
aber ich bin mit der Rolle des Stellvertreters absolut fein.

Frage: Mit 28 Jahren haben Sie schon viel in Ihrer Karriere erlebt. Welche
Ratschläge geben Sie jungen Spielern?

Hinteregger: Ich sage Ihnen immer: Macht Fehler auf dem Platz. Ihr dürft das
noch, wir erfahrenen Spieler nicht. Und wenn jemand junge Spieler
kritisiert, dann erzähle ich denen das auch. Und ein bisschen
Lebenserfahrung kann ich auch weitergeben. Dank meines Vaters war ich clever
und habe mit 19 Jahren schon ein Haus gebaut und dadurch ein bisschen
Sicherheit. Aber echte Ratschläge, die man eins zu eins übernehmen kann,
kann ich kaum geben. Dafür bin ich ein zu schriller Vogel.




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