SZ und BBSB zur U-Bahnsicherheit

  • From: "Gustav Doubrava" <gustav.doubrava@xxxxxxxxxxx>
  • To: <MobilInBayern@xxxxxxxxxxxxx>
  • Date: Fri, 16 Mar 2012 11:35:13 +0100

Hallo den Mobilen,

zunächst was die SZ-Leser heute lesen. Danach kommt die Stellungnahme des
BBSB, wie sie bei der Podiumsdiskussion verteilt wurde.

München City

Die Systeme lösen noch sehr oft falschen Alarm aus. U-Bahnsteige sollen
sicherer werden

Neue Technik warnt Fahrer, wenn Menschen ins Gleis stürzen - zunächst aber
nur im Testbetrieb an zwei Haltestellen
Von Marco Völklein

München - Die Münchner Verkehrsgesellschaft (MVG) will mit einer neuen
Technik verhindern, dass betrunkene oder blinde Menschen, die an einem
U-Bahnhof ins Gleis fallen, von einem einfahrenden Zug überrollt werden.
Solche Fälle hatten sich 2011 gehäuft; die MVG hatte den Einbau solcher
Technik aber bislang stets aus Kostengründen abgelehnt. Nun will sie die
Technik testen und weiterentwickeln. Sollte sie sich bewähren, könnte sie an
allen knapp 100 U-Bahnhöfen zum Einsatz kommen.

Zusammen mit der Universität Dresden will das Unternehmen eine Art
Videoüberwachung ausprobieren. Dabei erfassen vier bis fünf Kameras das
Gleisbett. Fällt ein Mensch hinein, lösen die Kameras eine Warnung aus. 'Der
Fahrer kann dann reagieren und ganz langsam in den Bahnhof einfahren', sagt
MVG-Betriebsleiter Michael Richarz. Derzeit löst die Technik allerdings noch
sehr oft Fehlalarme aus - etwa wenn eine weggeworfene Zeitung ins Gleis
flattert. An oberirdischen Bahnhöfen machen zudem Lichtreflexe, Nebel und
Schnee Probleme. Das hatten auch Versuche bei der U-Bahn in Nürnberg
gezeigt. Dennoch sollen die Fachleute die Technik nun in München an zwei
Stationen ausprobieren und weiterentwickeln - gedacht ist an einen Testlauf
an einem unterirdischen Bahnhof sowie an einem überirdischen Haltepunkt. Wo
genau, ist noch offen. Die Aktion Münchner Fahrgäste und die CSU begrüßten
den 'Sinneswandel der MVG'.

Bis die Technik flächendeckend eingesetzt wird, dürfte es noch dauern -
schon aus finanziellen Gründen. Pro Bahnsteigkante müsse man mit etwa 100000
Euro rechnen, sagt Richarz. Bei stadtweit 214Bahnsteigkanten kämen
Investitionskosten von mehr als 20 Millionen Euro auf die MVG zu.
SPD-Stadtrat Christian Müller versichert allerdings, sollte die Technik
funktionieren, 'werden wir diese natürlich auch einführen'. Sicherlich nicht
'von heute auf morgen an jedem Bahnhof', schrittweise aber schon. Die
Deutsche Bahn als Betreiberin der S-Bahn hält sich indes zurück. Man kenne
die Technik und beobachte die Arbeit der Fachleute in Dresden, sagt Karl
Heinz Holzwarth, Qualitätsbeauftragter der Bahn in Bayern. Doch bislang
verweigere das Eisenbahnbundesamt als Aufsichtsbehörde den Systemen noch die
Zulassung für Bahnstrecken.

Die MVG prüft zudem noch einen anderen Punkt, um die Sicherheit zu
verbessern: So kommt es immer wieder vor, dass Blinde und Sehbehinderte die
Zwischenräume zwischen den alten U-Bahn-Waggons mit Türen verwechseln und
ins Gleis fallen. Erst im Dezember war ein Mann am Rotkreuzplatz auf diese
Weise tödlich verunglückt. Die MVG will nun die kurzen Abstände zwischen den
Waggons mit Gummibändern absichern. Die langen Abstände, in denen sich die
Kupplungen zwischen zwei Doppeltriebwagen befinden, sollen mit einem
Infrarot-Lichtgitter erfasst werden - fällt ein Menschen dazwischen, erhält
der Fahrer eine Alarmmeldung. Allerdings ist auch diese Technik noch nicht
ganz ausgereift, man arbeite daran, versichert Richarz. Zudem müssten die
Gummibänder wie die Infrarot-Sensoren erst noch von der Zulassungsbehörde
abgenommen werden. Dem Bayerischen Blinden- und Sehbehindertenbund geht das
nicht weit genug: 'Der beste Schutz ist, das Hereinfallen zu verhindern',
sagt der Landesverkehrsbeauftragte Gustav Doubrava - etwa durch Bügel an den
Zug-Frontseiten.


Quelle 
Verlag  Süddeutsche Zeitung
Datum   Freitag, den 16. März 2012
        





Nun die Stellungnahme, die bewusst etwas breiter angelegt wurde.

Stellungnahme des BBSB vom 14.03.2012

Anforderungen an die Sicherheit im Verkehr, insbesondere bei der U- und
S-Bahn

Der Tod fährt immer noch mit

Der tödliche Gleissturz einer jungen blinden Frau am 10. Juni 2009
offenbarte eine Schwachstelle im Betrieb gekuppelter U-Bahnzüge. Der BBSB
hatte gehofft, dass sowohl die Verantwortlichen bei der MVG als auch bei der
Landeshauptstadt München Bereitschaft erkennen lassen würden, weitere Stürze
in den Kupplungsbereich technisch zu verhindern. Am 28. Dezember 2011 kam es
wieder zu einem Sturz eines blinden Mannes in den Kupplungsbereich zweier
U-Bahnwagen. Auch dieser Sturz hätte tödlich enden können. Nur durch die
verzweifelten Hilferufe seiner Frau wurde ein Fahrgast veranlasst, den
Nothalt zu betätigen, ehe der Zug anfuhr. 

Wie oft, so fragen blinde und sehbehinderte Fahrgäste, müssen Menschen noch
ihr Leben verlieren oder schwere Verletzungen erleiden, bis die MVG und die
Landeshauptstadt bereit sind, in die Sicherheit zu investieren? Gleisstürze
sind nicht nur eine Gefahr  für blinde und sehbehinderte Menschen. Im
Gedränge kann es auch passieren, dass Fahrgäste, namentlich Kinder,
abstürzen oder durch Gewaltanwendung ins Gleis gestoßen werden. 


Vorsicht und Rücksicht genügen nicht

Das Recht, am öffentlichen Verkehr teilzunehmen, besteht uneingeschränkt für
alle Menschen. Die Straßenverkehrsordnung enthält im § 1 lediglich die
Verpflichtung zur Vorsicht und zur gegenseitigen Rücksichtnahme. Dazu
gehört, dass Menschen, die sich nicht sicher im Verkehr bewegen können,
Vorsichtsmaßnahmen treffen, um sich selbst und andere nicht zu gefährden. 

Vermeidung von Unfällen

Die für die Verkehrssicherheit und für die Unfallverhütung zuständigen
Stellen treffen durch den Erlass von Vorschriften, mit konstruktiven
Vorgaben und baulichen Maßnahmen in der Regel Vorkehrungen zur Vermeidung
von Unfällen und setzen dafür nicht unerhebliche öffentliche Mittel ein. So
werden unfallträchtige Gefahrenstellen im Straßenraum etwa durch die
Beseitigung von Engstellen, gefährlichen Kurven und unübersichtlichen
Einmündungen ?entschärft?, Brückengeländer erhöht, Absturzstellen gesichert
usw. 

Maßnahmen, die der Vermeidung und Beseitigung von Gefahren für Menschen mit
eingeschränkter Mobilität, mit sensorischen und kognitiven
Beeinträchtigungen im Sinne deren ungehinderter Teilhabe am Leben der
Gemeinschaft notwendig sind, müssen mit der gleichen Priorität umgesetzt
werden, wie Maßnahmen zum Schutz der als uneingeschränkt verkehrstüchtig
geltenden Menschen. 

Zweierlei Maß

Während etwa Lichtsignalanlagen zur sicheren Querung von Fahrbahnen nach
bestimmten Kriterien vorgesehen werden, wird deren Ausstattung mit
akustischen und taktilen Zusatzeinrichtungen für Blinde und Sehbehinderte
immer noch davon abhängig gemacht, dass dort häufig Menschen mit nicht
vorhandenem oder stark eingeschränktem Sehvermögen queren, für sie bestimmte
Einrichtungen in der Nähe sind, ein durchgehendes Leitsystem besteht und
eine besondere Gefährdung gegeben ist. 

Vielerorts finden sich im Verlauf von Gehwegen abwärts führende Stufen, die
weder taktil durch Noppenprofile und visuell durch kontrastierend gestaltete
Stufen als Gefahrenstellen erkannt werden. 

Parallel geführte Geh- und Radwege sind in der Regel nur durch
unterschiedliche Oberflächengestaltung oder durch einen weißen Strich
getrennt. 

Das trifft ebenfalls auf Bahnsteige des Schienenverkehrs zu, nicht nur auf
Stationen untergeordneter Kategorien, sondern sehr wohl auch auf
Umsteigebahnhöfe und S-Bahnstationen etwa in den S-Bahnnetzen München und
Nürnberg. 

Ein weißer Strich mag als Markierung des Gefahrenbereichs auf dem Bahnsteig
für Menschen die sehen können  durchaus ausreichen; für Blinde ist er nicht
vorhanden, weil nicht wahrnehmbar. Man setzt sie also der Gefahr aus, ins
Gleis zu stürzen. Eigentlich müsste man solche Bahnsteige aus
Sicherheitsgründen sperren. Wenn es aber einmal trotz Führhund oder
Langstock zu einem Gleissturz kommt, spricht man von einem bedauerlichen
Unfall und nicht von einer ungenügend gesicherten Verkehrsanlage. 

Jeder Gleissturz ist einer zuviel

Es mag richtig sein, dass die Gefahr im Straßenverkehr zu verunglücken,
weitaus größer ist als im Bahnverkehr. Damit von nicht vorhandenen
Sicherheitsvorkehrungen abzulenken und den Status quo zu beschönigen,
vermeidet keinen einzigen Bahnunfall. 

Selbst wenn die körperhafte Abtrennung des Gleisbereichs bis zum Stillstand
des Zuges da und dort praktiziert wird, kann an ihre generelle Einführung im
Schienenverkehr nicht gedacht werden; von der Planung völlig neuer und in
sich geschlossener Bahnsysteme abgesehen. Wir werden es also in aller Regel
mit offenen Gleissystemen zu tun haben. 

Sicherer Bahnsteig

Daraus ergibt sich die Notwendigkeit, den Bahnsteig so sicher zu machen, wie
das irgend möglich ist. Das Verlassen des sicheren Bereichs muss taktil
deutlich wahrnehmbar durch Bodenindikatoren nach DIN 32984:2011-10 erfolgen,
deren Wahrnehmbarkeit den Profilen nach DIN 32984:2000-05 und den in den
80er und 90er Jahren eingefrästen Rillen wesentlich überlegen ist. In den
Natursteinbelag gefräste Rillen weisen keinen visuell wahrnehmbaren Kontrast
zum Bahnsteig auf.

Unbedingt erforderlich ist daher ein visuell wahrnehmbarer Kontrast durch
den Einbau von Bodenindikatoren, mit einem Leuchtdichtekontrast größer 0,4
nach der Michelson-Formel, entsprechend DIN 32975:2009 oder von entsprechend
kontrastierenden Begleitstreifen, wie das bei der DB zum Standard geworden
ist. 

Lichtbänder oberhalb der Bahnsteigränder bei unterirdischen oder überdachten
Bahnsteigen sorgen nicht nur für eine bessere Wahrnehmung des markierten
Bereichs. Sie können von Menschen mit einem minimalen Sehvermögen noch
erkannt und als Orientierungshilfen genutzt werden. 

Gleisbettüberwachung 

Bei Bahnsystemen mit dichter Zugfolge, hoher Einfahrgeschwindigkeit und
nicht optimaler Einsicht des Gleisbereichs in der Station können Systeme zur
Gleisbettüberwachung zwar Gleisstürze nicht verhindern, jedoch Leben retten.
Bei konventionell betriebenen U-Bahnen sind nicht nur im Interesse blinder
und sehbehinderter Menschen Systeme zur Unterstützung des Fahrpersonals und
der Leitstelle zu fordern, wie sie nach Darstellung der MVG zurzeit getestet
werden. 

Todesfalle Kupplungsbereich

Die Verwechslung des Kupplungsbereichs mit der Tür dürfte bei sorgfältiger
Anwendung von Sicherheitsstrategien, wie man sie im Orientierungs- und
Mobilitätstraining lernt, nicht vorkommen. Es genügt, einen Moment nicht
vorsichtig genug zu sein. Der nächste Schritt kann den sicherenTod bedeuten.
Wenn alle Menschen zu jeder Zeit voll aufmerksam wären, Vorsicht und Umsicht
walten ließen, dürfte es Unfälle überhaupt nicht geben. 

Eine Anfahrverhinderung nach einem Sturz in den Kupplungsbereich kann das
Leben retten, nicht aber schwerste Verletzungen und bleibende Folgen
vermeiden. 

Uns überzeugen die Argumente der MVG gegen eine mechanische Sicherung des
Kupplungsbereichs nicht. Es muss möglich sein, Bügel an den beiden
Wagenenden zu befestigen, die sich selbst beim Durchfahren von Gleisradien
nicht berühren, Der untere Teil des Bügels müsste in einer Höhe von 10-15 cm
über Bahnsteigkante und der obere Teil unterhalb der Fensterhöhe den Bereich
zwischen den Wagen eines Doppeltriebwagens von ca. 55 cm und den
Langkupplungsbereich von ca. 120 cm sichern. Die Bügel des
Langkupplungsbereichs wären so zu konstruieren, dass sie sich seitlich oder
nach oben verschieben bzw. zur Gleismitte hin wegklappen ließen, um den
Kupplungsvorgang nicht zu behindern. Das unbefugte Bewegen könnte durch ein
Schloss verhindert werden. 

Selbst wenn der Kupplungsvorgang dadurch geringfügig länger dauern würde,
scheint uns das zumutbar. Die Vermeidung von Gleisstürzen würde im Gegenzug
die Betriebsqualität stabilisieren. Dessen ungeachtet sollte der MVG das
Leben und die Gesundheit ihrer Fahrgäste über alles gehen. 

Die Politik ist gefordert

Nach dem Sturz in den Kupplungsbereich im Dezember sprach die MVG laut
Abendzeitung von einem bedauerlichen Unfall und verwies zur eigenen
Rechtfertigung darauf, dass die Sicherheitssysteme funktioniert hätten und
alle Vorschriften eingehalten würden.

Um die Todesfalle Kupplungsbereich auszuschalten fehlt, konsequent
weitergedacht, also nur eine Vorschrift in der Straßenbahnbau- und
Betriebsordnung (BO Strab), die regelt, dass der Kupplungsbereich auch
älterer Fahrzeuge mechanisch entsprechend zu sichern ist. Dann könnte nicht
nur die MVG, sondern dann müssten auch alle anderen Verkehrsunternehmen in
Deutschland endlich handeln. 

Es bleiben freilich Zweifel daran, ob die Politik in Anbetracht der relativ
wenigen ?bedauerlichen Unfälle? den Widerstand der Unternehmen und deren
Organisation brechen kann. So gesehen täten die Entscheidungsträger in den
Unternehmen und in der Politik gut daran, sich die 10 Gebote der
Barrierefreiheit der Bundesarbeitsgemeinschaft für Rehabilitation (BAR) zu
Herzen zu nehmen. Im 8. Gebot steht: Stelle die objektive und subjektive
Sicherheit für ALLE her. Wesentlich sind vorbeugende Sicherheitsmaßnahmen. 

In den Behindertengleichstellungsgesetzen des Bundes und des Freistaates
heißt es: 

Barrierefrei sind ... Verkehrsmittel ... wenn sie für behinderte Menschen in
der allgemein üblichen Weise, ohne besondere Erschwernis und grundsätzlich
ohne fremde Hilfe zugänglich und nutzbar sind. 

In der allgemein üblichen Weise nutzbar wären sie aus der Sicht blinder und
sehbehinderter Menschen, wenn sie so sicher wie für nicht behinderte
Fahrgäste wären, die die Gefahr rechtzeitig erkennen.

In Art. 9 der UN-Behindertenrechtskonvention verpflichten sich die
Vertragsstaaten, Menschen mit Behinderung auch den gleichberechtigten Zugang
zu Transportmitteln zu gewährleisten, was in der Folge deren sichere Nutzung
einschließt. 

Wo ein Wille ist, ist auch ein Weg

Wir verlangen im Interesse aller Menschen, insbesondere aber jener, die in
ihrer Mobilität oder ihrer Sensorik beeinträchtigt sind, einen wirksamen
Schutz vor Unfällen im gesamten öffentlichen Verkehrsraum, insbesondere aber
im Schienenverkehr.

Es darf nicht länger hingenommen werden, dass der Schutz gehandicapter
Menschen weniger wichtig ist.

Wir erwarten mehr Sicherheit auf Bahnsteigen und einen wirksamen Schutz vor
Gleisstürzen, insbesondere im Kupplungsbereich von Zügen, vorrangig durch
Absperrungen.

Wir erwarten die Schaffung gleichwertiger Bedingungen für die Teilhabe am
öffentlichen Verkehr, die durch besondere Berücksichtigung des
Schutzbedürfnisses gehandicapter Menschen sichergestellt werden müssen. 

Wir erwarten jegliche Diskriminierung von Menschen mit Behinderung zu
vermeiden, weil sie mit dem Geist einer inklusiven Gesellschaft nicht
vereinbar ist. 




-- 
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